Es ist 2024 und der KI-Hype ist überall. Besonders scheint der Glaube sehr verbreitet zu sein, dass die KI super übersetzt. Ja. Kommt darauf an, was Sie genau unter „super“ verstehen. Ich glaube, dass dieser Eindruck durchaus aus richtigen Wahrnehmungen von Aspekten der Textqualität entsteht. Zum Beispiel fällt Ihnen wohl auf, dass der Text grammatisch fast fehlerfrei ist. Und dass er auf eine Art zu fließen scheint, die Sie in ihrem Schreiben als schwer erreichbar erleben. Aber funktionieren solche Übersetzungen wirklich gut, wenn der Texte nicht nur unverbindlich-gefällig wirken, sondern die Leser:innen so ansprechen soll, dass sie freiwillig auf eine Reise durch komplexe Sachverhalte mitkommen? Dazu müssen wir uns vielleicht anderer Dimensionen der Textqualität bewusst werden.
Wie viel verstehen Sie davon, wie ein:e menschlicher Übersetzer:in arbeitet? Ein Aspekt des Übersetzens, der vielen Nicht-Übersetzer:innen vermutlich wenig bekannt ist, ist, wie viele Entscheidungen im Zuge einer Übersetzung getroffen werden. Einerseits gibt es quasi strategische Entscheidungen – die, die ich aus Überlegungen über die Leser:innen und den kommunikativen Zweck des Textes treffe. Und dann kommen viele Details, bei denen ich etwas recherchiere und mich aufgrund extrem kleiner Datenmengen, und sogar einzelner Datenpunkte, für bestimmte Optionen entscheide. In beiden Fällen entscheide ich aufgrund meines Wissens und aus logischen Schlussfolgerungen heraus – anders als eine KI eben nicht aufgrund von Textmustern, die massenhaft vorkommen. Ich fürchte: wer noch keine ernsthaften Versuche unternommen hat, spezialisierte Texte zu übersetzen, kann leicht unterschätzen, wie schnell wir uns in einem Bereich wiederfinden, wo es nur ganz wenige relevante Mustertexte gibt und diese wenigen wiederum nicht zur Gänze verlässlich sind.
Tauchen wir in einige dieser Entscheidungen ein. So tut zumindest dieser Übersetzer:
- Er entscheidet, Informationen wegzulassen oder hinzuzunehmen. Das klingt furchtbar? Aber ein Beispiel: in der deutschen Fassung wird ein englischer Fachbegriff eingeführt, und dann so erläutert, dass die Erklärung einem des Englischen mächtigen Menschen nichts anderes sagt als der Begriff selbst. Soll die Übersetzung lesbar sein, kommt das weg. Umgekehrt: ein im Deutschen selbstverständlicher Begriff wird im Englischen gar nicht selbstverständlich sein; dann muss ich etwas hinzufügen, um ihn verständlich zu machen (manchmal ist es die beste Lösung, den deutschen Begriff mit einer Definition auszustatten und ihn dann im Englischen weiterzuverwenden; es gibt aber auch andere Möglichkeiten).
- Er übersetzt nicht nur zwischen den beiden Sprachen, sondern auch zwischen gewachsenen Traditionen im Fachgebiet in den deutschsprachigen und englischsprachigen Ländern. Oft ist es nämlich so, dass ein Fach sich hüben und drüben seine Konzepte anders definiert und erklärt, bestimmte Themen also mit einer jeweils eigenen Logik besprochen werden. Ich sage nur: Statik und Holzbau.
- Er nimmt Rücksicht darauf, dass die regulatorischen Rahmenbedingungen da wie dort anders sind und man folglich auch deswegen aufpassen muss, ob bei bestimmten Ausführungen ein impliziter Bezug auf einen bestimmten Standard zu verstehen, oder im anderen Fall zu vermeiden ist.
- Er organisiert den Text um, um einen in der Zielsprache passenden Anfang herzustellen. Im Deutschen scheint der Drang, zur Sache zu kommen, oft, ähm, weniger dringlich zu sein. Manchmal muss also ein neuer erster Absatz geschrieben werden, weil wir im Englischen von diesem Absatz erwarten, dass er akkurat ankündigt, was nachher kommt.
- Wie der ganze Text oft einen neuen ersten Absatz braucht, so ähnlich ist das innerhalb der Absätze. Im Englischen wird ein Topic Sentence erwartet. Dieser macht den ganzen Text leichter zu navigieren.
- Er organisiert Informationen in einem Absatz um, um eine in der Zielsprache angemessene Reihenfolge herzustellen. zB, um Ereignisse in ihrer chronologischen Reihenfolge zu ordnen. Manchmal sind Informationen im Deutschen auf eine Art miteinander verwoben, die, wenn ich das im Englischen reproduziere, Leser:innen wie ein Durcheinander vorkommen muss. Wenn ich die Freiheit habe, dann sortiere ich oft Punkte dahin und dorthin, um erzähltechnisch saubere Absätze zu machen, die jeweils ein Thema abhandeln.
- Er verteilt Informationen zwischen Sätzen so, dass nicht zu viele Informationseinheiten in einem Satz untegebracht sind.
- Er überlegt, ob bestimmte Informationen an dem Punkt in der Erzählung, wo sie vorkommen, so neu und wichtig sind, dass sie satzbautechnisch prominenter positioniert sein sollten, vielleicht überhaupt einen eigenen Satz bekommen. Oft finde ich im Deutschen eine neue Information in einer Position innerhalb der Syntax eines Satzes, an der, wenn ich diese Struktur im Englischen genau reproduziere, sie als unangemessen ‘begraben’ wirken würde.
- Er achtet auf die Topic-Comment-Struktur im Satz und ordnet Informationen manchmal anders, damit der Anfang von einem Satz eher an die vorangegangene Informationen anknüpft bzw. für die neue Information im Satz eine Bühne aufbaut, und die wichtigste/neueste/spezifischste Information ganz am Ende des Satzes kommt.
- Unter den grammatikalisch möglichen Lösungen für einen Satz, die die erwünschte Informationsreihenfolge herstellen, wählt er die für die Verständlichkeit günstigste. Auch unter grammatikalisch „fehlerfreien“ Satzvarianten haben Deutsch und Englisch unterschiedliche Präferenzen.
- Er entscheidet, ob deutsche Pronomialadverbien einfach zu übersetzen sind oder durch eine explizitere Phrase aufgelöst werden müssen, um ihren Bezug (Rück- oder Vorverweis) in der Übersetzung ebenso klar zu machen, wie im Ausgangstext. Und wählt auch bei anderen satzübergreifenden Verweisen funktionierende Lösungen.
- Er entscheidet, ob idiomatische Phrasen durch ein entsprechendes Idiom gut zu übersetzen ist, ob man eine passendere Phrase entwickeln kann, oder ob man es besser gleich lässt.
- Er passt bei der Terminologie auf, ob Begriffe so eingeführt werden, dass sie für die Leser:innen verständlich sein werden.
- Er notiert Stellen im Text, die ihm wie Fehler und Widersprüche vorkommen, und überlegt, welche davon wichtig genug sind, dass er sie dem Klienten gegenüber anspricht.
- Er sorgt dafür, dass der Text gut mit vorhandenen Bildern interagiert.
- Er adaptiert Überschriften, damit sie den Konventionen der Zielsprache entsprechen (zB im Sinne der Explizitheit).
- Er merkt, wenn die direkte Übersetzung eines Wortes nicht so verstanden werden wird wie beabsichtigt und ein anderes Wort oder eine Phrase oder eine ganz andere Behandlung vom betreffenden Satz angesagt ist, um dieselbe Idee zu vermitteln.
- Er hört Feedback gerne zu, erklärt die Gründe, aus denen er bestimmte Übersetzungen gewählt hat, berücksichtigt das themenspezifische Sprachwissen der oder des Klient:in und überarbeitet den Text entsprechend.
- Er erwägt, wann und wo es zielführend sein könnte, auch den Ausgangstext anzupassen, damit die beiden Sprachversionen gut zusammenpassen (bei zweisprachigen Druckwerken besonders relevant).
Das ist kein Versuch einer vollständigen Liste; es sind nur die Dinge, die mir auf die Schnelle einfallen. Aber Sie sehen hoffentlich: eine gelungene Übersetzung ist die Lösung eines Puzzles aus vielen Teilen. Sie ist ein Versuch, viele Präferenzen und Zielsetzungen auf einen Nenner zu bringen.
Ich glaube, dass Leser:innen gut spüren können, wenn jemand sich die Mühe gibt, um sie gezielt, leicht lesbar, gut navigierbar und verständlich anzusprechen. Solche Texte setzen sich von der Masse der unmotivierten so-lala-Texte ab. Und diese Mühe können Sie von mir erwarten.